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Archiv-Artikel

press-schlag Die große biografische Frage: Mama oder Fußball?

Wie Friedrich Schiller einmal gegen Antonin Panenka gewann

Bevor Bild es tut, frage ich lieber selbst: „Hätte Mama das gewollt, dass ich heute über Fußball schreibe?“ Was uns unmittelbar weiterführt zur großen biografischen Frage, die sich allen Jungs stellt: Mama oder Fußball?

Nun, meiner Mutter, die vor fünf Wochen gestorben ist, wäre es vermutlich herzlich wurscht gewesen, ob ich heute einen Press-Schlag schreibe oder nicht. Schließlich verband sie nicht einmal eine Abneigung mit dieser Sportart, sondern fröhliche Ignoranz. Am 4. Juli 1954 nachmittags taten meine frisch verlobten Eltern, was man sonntagsnachmittags eben macht – sie gingen spazieren. Und rätselten, warum die Straßen so leer waren. Sie hatten nämlich keine Ahnung, was sich gleichzeitig im Berner Wankdorf-Stadion tat. Und hätten sie’s gewusst – sie wären sicherlich trotzdem spazieren gegangen. Spätestens da war klar: Die beiden waren füreinander bestimmt.

Viele Jahre später holte mein Mütterchen den zweiten Titel in Ahnungslosigkeit: Als eine Nachbarin ihr stolz erzählte, ihr zwölfjähriger Sohn sei „mit der kleinen Hertha nach Asien gefahren“, fragte meine Mutter erschrocken, ob das nicht ein bisschen früh sei – für eine Freundin und für eine gemeinsame Fernreise. Von Hertha Zehlendorf und der damals legendären Jugendarbeit des Vereins hatte sie, wiewohl wohnhaft in Zehlendorf, noch nie etwas gehört.

Zur pädagogischen Bekümmernis meiner Mutter begann ich bald darauf, mein Taschengeld für Besuche bei der großen Hertha und auch für ein peinliches Blättchen auszugeben, das sie zeitlebens beharrlich Kickers nannte. Meine Mutter betrachtete meine Fußballbegeisterung als Begleiterscheinung der Pubertät – wie Pickel, verhauene Mathearbeiten und Liebeskummer. Sie dachte, das würde sich auswachsen.

Und doch: Eines hat sie mir für immer voraus. Am 20. Juni 1976 musste ich mit meiner Schwester ins Schiller-Theater – das Schüler-Abo sah die „Räuber“ vor. Es sollte der erste große Raub an meiner Fußballbiografie werden: Als wir heimkamen, saßen mein Bruder und meine Mutter (!) fiebrig erhitzt vor dem eben ausgeschalteten Fernseher, die Luft im Wohnzimmer vibrierte – gerade eben hatte Panenka im Endspiel der EM den entscheidenden Elfer in Sepp Maiers Tor geschnibbelt. Zusammen mit dem WM-Halbfinale 1982 gegen Frankreich ist das der schmerzhafteste Posten in meiner Sammlung versäumter Spiele. Meine Mutter jedoch hatte es gesehen – und wollte seither, dass wir sie herbeiriefen, wenn es Elfmeterschießen gab. Was davor geschah, hat sie nie interessiert.

OLIVER THOMAS DOMZALSKI